Height, Pace, Consistency

exhibition with Helene Appel and Pauline M’barek closing our shared Dorothea-Erxleben fellowships at the HBK Braunschweig

opening on the evening of the 1.2. with a concert performance of a new set of Playground#N from our Sono-Choreographic-Collective. Live but due to C-restriction only with a small group of invited participants.

exhibition times: 2.-18. 2. 22 from Mo–Fr: 14–18 Uhr Galerie der HBK Braunschweig (HBK Only)

External guest can make appointments with Sabine Maag:  veranstaltungen(at)hbk-bs.de

In the exhibition we try to combine and intertwine related aspects in the divers media of our practises. Namely paintings, a photo, videos on screen and projected, sculptures – sounding and silent,  together with a remaining playground of musical spintop- instruments and the audio recording of the opening concert.

text by Ludwig Seyfarth in German:

Height, Pace, Consistency

Die „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“, die der italienische Schriftsteller Italo Calvino 1985 formulierte, sind ein Plädoyer für die intellektuelle und anschauliche Kraft der Kunst und ihre Fähigkeit, die Welt in immer neuen materiellen Qualitäten, gleichsam in Aggregatzuständen, zu beschreiben. So beobachtet Calvino „zwei gegensätzliche Bestrebungen“, die „einander das Feld der Literatur durch die Jahrhunderte hindurch streitig machen. Die eine sucht aus der Sprache ein gewichtsloses Element zu machen, das über den Dingen schwebt wie eine Wolke oder besser gesagt wie ein feiner Staub oder noch besser wie ein Feld von Magnetimpulsen; die andere ist darauf aus, der Sprache das Gewicht, die Dichte und die Konkretheit der Dinge zu geben, die Konsistenz der Körper und Empfindungen.“ 1

Diese beiden Bestrebungen sind nicht nur in der Sprache, sondern auch in der visuellen und haptischen Annäherung an die Dinge zu beobachten. Exemplarisch nachvollziehbar ist dies in der Ausstellung Height, Pace, Consistency.

Wie „ein feiner Staub oder noch besser wie ein Feld von Magnetimpulsen“ ließe sich der Klang, der sich aus Kerstin Ergenzingers Installation „Pluvial“ in den Raum verteilt, sprach- lich beschreiben. Und die Assoziation einer „über den Dingen schwebenden Wolke“ wird durch die achtzig String Drums geweckt, die als längliche Röhren wie Elemente eines Mobiles in unterschiedlicher Länge und Höhe an der Decke hängen. Aus ihnen kommen die durch eine komplexe digitale Steuerung gefilterten Geräusche, wie sie auf die Wasseroberfläche des Meeres fallender Regen hervorruft. Das sich ständig verändernde Klangbild beruht auf zufallsgesteuerten Rhythmisierungen tongebender Signale, die von Daten moduliert werden, welche die Künstlerin vom OceanRain Netzwerk an der Universität Hamburg erhielt und die um das Fünfzehnfache beschleunigt wiedergegeben sind. Es färbt sich durch die physikalischen Eigenschaften der Trommelröhren und ihrer Bestandteile, welche die Rhythmen filtern und verstärken.

Auf unserer Haut können akustische Reize ein mehr oder weniger starkes Kribbeln verursachen. Und trifft realer Regen auf sie, wird sie feucht oder nass. Aber geschieht nicht noch mehr? Wie sich scheinbar Festes und Konsistentes immer mehr auflöst und sich als undichte, geradezu wässerige Membran entpuppt, führt Pauline M’barek in ihren Fotografien, Filmen und Objekten exemplarisch vor.

Ihr Bestreben ist es, stets so nahe wie möglich an die Oberfläche des Körpers, auch des eigenen, und die verschiedener Dinge heranzu- kommen. So kommen die Schweiß- poren eines Fingers in eine extreme Nahsicht oder die Kamera ist auf einen Wassertropfen gerichtet, der langsam in Pappe einsinkt, was auch an einen Leberfleck oder eine Körperöffnung erinnern kann. Alles wird porös, feucht – auch die Haut zeigt sich als durchlässige Schicht, durch die ein Austausch mit der Umwelt stattfindet. Ob in skulpturaler Präsenz oder als Videoprojektion – stets sehen wir „undichte Dinge“, wie Pauline M’bareks Ausstellung 2021 in der Thomas Rehbein Galerie in Köln hieß, auf der auch die Auswahl der Werke hier beruht.

Nun scheint alles doch zu der ersten der von Calvino beobachteten Tendenzen auszuschlagen. Denn wo bleiben „das Gewicht, die Dichte und die Konkretheit der Dinge“? Da sollten wir doch bei Helene Appel fündig werden, denn sie konzentriert sich auf die Gestalt und Form unterschiedlicher Dinge, denen sie sich durch unterschiedlichen Zeichen- und Maltechniken annähert. Die Rauheit und Festigkeit eines Ahorn- und eines Eichenbaumstamms, die in voller Größe an der hinteren Wand der Hochschulgalerie hochragen, bleibt auch erhalten, wenn sich die scheinbar plastischen Stämme bei näherem Herantreten als ausgeschnittene Stücke Leinwand zeigen. Der „Gehweg“ erscheint aus der Distanz als rein abstraktes Muster aus auf der Spitze stehenden Quadraten. Erst aus der Nähe zeigt sich das Motiv, das hier einerseits abgebildet ist, aber dessen materielle Qualität sich auch direkt abdrückt, wenn mit dem Bleistift nicht nur filigran gezeichnet, sondern auch frottagierend durchgerieben wird.

Vielleicht sind die von Calvino markierten Bestrebungen, zumindest wie sie in dieser Ausstellung in Er- scheinung treten, nicht gegensätzliche Pole eines Spektrums, sondern un- mittelbar miteinander verbunden, wobei die Tendenz dahin geht, dass jede Konsistenz in Frage steht oder sich aufzulösen scheint, in der Zeit (pace) oder im Raum (height). Aber vielleicht ist das auch einfach der Lauf der Zeit, an den schon die klassischen Stilllebenmaler*innen stets erinnerten. Sie führten uns die Dinge, die früher oder später dem Verfall preisgegeben würden, so genau vor Augen, dass auch einzelne Wassertropfen auf einem Weinglas oder einer Zitrone gleichsam verewigt wurden.

Ludwig Seyfarth

1

Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber, München 1991, S. 31